Das Treffen im Stammcafé
Da ich in der Innenstadt wohne, führt mich mein Weg oft durch die Fussgängerzone. Kaum ist das Wetter etwas besser, sitzen bereits wieder viele Leute in den Strassencafés. Ich selber genehmige mir ab und zu auf dem Weg zur Arbeit einen Kaffee und studiere die Tageszeitung…
In einem dieser Cafés fiel mir nach einiger Zeit ein älterer Herr auf. Immer wohlgekleidet sass er alleine an einem kleinen Tischchen und beobachtete die vorbeigehenden Menschen. Meist sass ich einige Meter entfernt, ebenfalls mit einer Tasse Kaffee vor mir. Als ich ihn das erste Mal bemerkte, war es mehr zufällig. Beim Umblättern der Tageszeitung liess ich meinen Blick schweifen und da fiel mir seine Anwesenheit auf. Mit der Zeit stellte ich fest, dass er immer zu den gleichen Zeiten an einem der kleinen Tische sass. Nie sass jemand bei ihm oder unterhielt sich mit ihm. Mit der Zeit suchte mein Blick das vertraute Gesicht, wenn ich einkehrte und meist entdeckte ich es, interessiert die Umgebung beobachtend.
Als der Mann einmal drei Tage hintereinander nicht auftauchte, fing ich an, mir Gedanken zu machen. Warum war er nicht gekommen? Vom Alter her war er sicher bereits länger pensioniert, Zeit war also kaum das Problem. War er krank geworden? Vielleicht weggezogen? Hatte er jemanden, der sich um ihn kümmerte? Mit einem beunruhigten Gefühl verliess ich das Café.
In den folgenden Tagen achtete ich darauf, ob ich ihn irgendwo entdecken konnte, doch er blieb verschwunden. So wurde es für mich zur Gewohnheit nach dem unbekannten Mann Ausschau zu halten. Kein Tag verging, ohne dass ich mich unter den Besuchern der Strassencafés umsah, ob er nicht irgendwo vor seiner Tasse sass.
Etwa zwei Wochen später, ich hatte die Suche bereits aufgegeben, sah ich ihn auf dem Nachhauseweg. Er sass an seinem Stammplatz, dem kleinen Zweiertisch in der hintersten Reihe. Ich spürte Erleichterung und wollte bereits weitergehen, als ich plötzlich einen Entschluss fasste. Zielstrebig ging ich auf den Tisch zu und fragte den Mann, ob ich mich zu ihm setzen dürfe. Er sah mich überrascht an, bot mir aber freundlich den freien Stuhl an.
Nachdem ich mir einen Espresso bestellt hatte, sprach ich ihn an. Ich erzählte ihm, dass ich ihn schon oft hier gesehen hätte, er aber längere Zeit abwesend war. Erstaunt sah er mich an. Er konnte nicht glauben, dass jemand der ihn nicht mal kannte, das bemerkt hatte.
Er fing an zu erzählen und im Nu verstrich eine Stunde mit Geschichten aus seinem Leben. Da ich noch etwas zu erledigen hatte, musste ich mich verabschieden. Vor dem Gehen fragte ich ihn aber noch, ob wir uns in einer Woche wieder hier treffen wollten, um das interessante Gespräch fortzusetzen? Er willigte erfreut ein und seither treffen wir uns fast jede Woche einmal im Stammcafé, am Tisch ganz links, in der hintersten Reihe.
Urs Hartmann