Stubenhockerentführer

Stubenhockerentführer

Es war einmal. So beginnen viele Märchen. Aber diese Geschichte ist kein Märchen, sie ist wahr. Es war einmal ein kleines Mädchen. Es konnte nicht oder meistens nicht „lieb“ sein. Also so, wie die Eltern es sich vorstellten… Zimmer aufgeräumt, Hausaufgaben gemacht, von sich aus Mami bei den Hausarbeiten geholfen. Es war einfach anders. Es erfüllte die Bedingungen, die das Leben stellt, oft nicht. Lebensbedingungen sind z.B. Anpassung an die grosse und die kleine Welt, lernen, damit mal etwas Rechtes aus dir wird, Werte der Umgebung übernehmen, eben wie erwähnt ANPASSUNG. Eigenständigkeit oder gar dumm sein, Streiche spielen, unaufmerksam sein ist in der Gesellschaft nicht vorgesehen. Man muss perfekt sein, halt gut sein. Das kleine Mädchen wurde grösser und grösser. Bis es kein kleines Mädchen mehr war, sondern so richtig erwachsen. Zwar hat es begriffen, dass eine gewisse Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen gut sind, hat einen Beruf erlernt und gearbeitet und Steuern und Krankenkassenprämien bezahlt und ging abstimmen. War an und für sich unauffällig. Mit Ausrutschern zwar. Manchmal war Wut da, die sich im Verhalten zeigte. Der Gerechtigkeitssinn war zudem sehr ausgeprägt und die Feststellung, dass wir in einer ungerechten Welt leben, tat sehr weh. Das kleine Mädchen, das grösser und älter wurde, vereinsamte mehr und mehr, zog sich in seine Welt zurück. Stubenhocker halt. Da war aber einmal ein Mann, gut ein Fachmann für Psychiatrie/Psychotherapie, der meinte, das kleine Mädchen, das bald im AHV-Alter war, vereinsame. Stubenhocker-Dasein sei nicht gut fürs Gemüt, das führe zu Depressionen. Er war und ist ein Stubenhockerentführer. Ist das Gewinnbringend? Es muss doch alles Gewinn bringen in unserer Gesellschaft. Man muss sich dauernd optimieren und man soll noch perfekter funktionieren und auch im Alter sich gesund ernähren und Sport treiben, sodass man einst gesund sterben kann und der Gesellschaft nicht zur Last fällt und der Krankenkasse auch nicht. Nun, auch im Alter kann man neue Wege gehen. Einfach mal ausprobieren, wie das ist, die Stube zu verlassen, das Stubenhockerdasein aufzugeben. Es tut, das Mädchen, das in der erwachsenen Frau lebt. Es tut und probiert und studiert. Es ist der Anfang einer Geschichte. Eines Märchens? Der Stubenhockerentführer ist zufrieden. Mal einer, der mit dem unangepassten Mädchen zufrieden ist. Eine schöne Geschichte. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch. Sie leben, ich und du und wir.

Johanna Fankhauser